von Dirk Baranek | 23.12.2019
Der Energiemarkt steht vor großen Veränderungen, die sich heute schon in Ansätzen abzeichnen. Dieser Wandel, oft als Energiewende bezeichnet, wird notwendig durch die Anforderungen, die der Klimaschutz an die Energiewirtschaft stellt.
Zum einen man Strom in Zukunft klimaneutral erzeugen. Das Stichwort heißt Dekarbonisierung der Stromproduktion. Damit ist der komplette Verzicht auf Kohle, Öl oder Gas bei der Stromerzeugung gemeint. Große Kraftwerke, die zentral Strom aus fossilen Energieträgern erzeugen, wird es dann nicht mehr geben. Stattdessen kommen flächendeckend erneuerbare Energien zum Einsatz: Photovoltaikanlagen, Windräder, Wasserkraft oder Biogasanlagen. Die Energiewelt der Zukunft wird also wesentlich kleinteiliger und dezentraler sein. Statt ein paar tausend großen Kraftwerken werden Millionen Anlagen unterschiedlicher Größe die notwendige Energie erzeugen. Das muss organisiert und so gesteuert werden, dass daraus ein verlässliches Energienetz entsteht. Digitale Technologien spielen dabei eine Schlüsselrolle, um die Erzeugung, die Nutzung und die Speicherung von Energie in Einklang zu bringen. Die Digitalisierung der Energiewirtschaft ist hier ein Schlüsselelement zum Gelingen der Energiewende.
Zum anderen steht die Energiewirtschaft vor der Aufgabe, in Zukunft Bereiche des Energieverbrauchs zu versorgen, mit denen sie bisher kaum etwas zu tun hatte. Denn auch die Wärmeerzeugung und die Mobilität stehen vor der Herausforderung, bis 2050 den Ausstoß von CO2 komplett auf null zu reduzieren. Bei der Mobilität steht dabei die Elektromobilität im Fokus. Hier gilt es Technologien, wie z. B. Wasserstoffantriebe, parallel weiter zu erforschen und – zu entwickelt. Bei der Versorgung mit Wärme sieht es ähnlich aus, Wärmepumpen und Technologien wie die mit Wasserstoff betriebene Brennstoffzelle kommen hier bereits zum Einsatz. Letztlich haben all diese Technologien eines gemeinsam – Sie nutzen elektrische Energie. Die Zukunft steht unter Strom.
Die Aufgaben und Herausforderungen an den Energiemarkt der Zukunft sind also enorm. Der Wandel ist tiefgreifend und bedeutet eine historische Zäsur in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Daraus ergeben sich viele praktische Fragen. Diese zwar die Wissenschaft beantwortet, allerdings klafft bekanntlich zwischen Theorie und Praxis immer eine gewisse Lücke. Um theoretische Konzepte in der Praxis zu erproben, hat die Bundesregierung unter Federführung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie ein Förderprogramm aufgelegt: SINTEG – Schaufenster intelligente Energie. Im Rahmen dieses Programms sollen in fünf Modellregionen digitale Technologien zum Einsatz kommen, um deren konkrete energiewirtschaftlichen Problemstellungen zu beantworten. Es gilt dabei „Musterlösungen für die zukünftige Energieversorgung“ zu entwickeln, umzusetzen und zu erproben. Es lohnt einen genaueren Blick auf die einzelnen Projekte zu werfen. Sie illustrieren exemplarisch wo die Herausforderungen der Energiewende liegen und wie man diese digital meistert.
Baden-Württemberg, Bayern und Hessen erzeugen die Hälfte des deutschen Sonnenstroms. In den Südländern scheint die Sonne eben länger und stärker als im Norden. Deswegen ist die Photovoltaik hier äußerst sinnvoll. Diese Stromerzeugung hat ihre eigenen Herausforderungen. Sie ist auf die Fläche verteilt, dezentral und sehr abhängig von der Tageszeit und dem Wetter. In dem Projekt wird versucht, diese Eigenschaften in einer zellenartigen Organisationsstruktur zu koordinieren. C/sells will Erzeugung und Verbrauch von Energie bereits auf lokaler und regionaler Ebene optimal ausgleichen und so das Netz stabilisieren. Denn je näher Erzeugung und Verbrauch lokal zusammenliegen, desto besser für das Stromnetz. Das erspart zum Beispiel den kostspieligen Netzausbau und reduziert Energieverluste, die beim Transport anfallen. Ziel ist es, dass jede Zelle, das können Regionen sein, Städte, aber auch Industriegebiete oder Flughäfen, autonom wird. Also unter dem Strich selbst ausreichend Strom erzeugt.
Um diese Vision real werden zu lassen bedarf es neben den dezentralen regenerativen Erzeugern digitale Steuerungstechnologien. Diese ermöglichen die Umwandlung bisheriger Energienetze zu sogenannten Smart Grids, also intelligenten Netzen. Die genannten Zellen werden zusätzlich untereinander vernetzt, um den Strom dorthin zu lenken, wo er gerade fehlt. Innerhalb der Zellen besitzen die Stromproduzenten dann eine Plattform, mit der sie sich am Energiemarkt direkt beteiligen können.
Allein in den genannten Regionen produzieren heute bereits 760.000 Menschen Strom. Diese verkaufen ihren Strom im Rahmen der Einspeisevergütung aktuell noch an den Energieversorger vor Ort. Noch, weil nach Ende der subventionierten, auf 20 Jahre garantierten Verkaufspreise werden sich diese Produzenten nach anderen Vermarktungsmöglichkeiten umschauen müssen. In der von C/sells bereitgestellten Infrastruktur sollen sich Erzeuger und Verbraucher wie auf einem Markt treffen. Aber ein intelligentes Netz bedeutet noch viel mehr. Was passiert, wenn nicht genug Strom erzeugt wird? Hier erforscht man in C/sells alternativ zur Vernetzung den positiven Einfluss von variablem Lastmanagement, in dem man aktuell rund 2.000 Verbrauchseinrichtungen an ein hoch variables Preissystem koppelt.
Dieses Projekt fasst mit NRW, Rheinland-Pfalz und dem Saarland drei Bundesländer zusammen, die von ihrer energiewirtschaftlichen Struktur die Herausforderungen der Energiewende insgesamt abbilden. Während in NRW weit mehr Strom verbraucht als erzeugt wird, ist es in Rheinland-Pfalz genau umgekehrt. DESIGNNETZ versucht nun, diese Ungleichgewichte durch eine Vielzahl von Lösungsansätzen und deren digitaler Vernetzung beherrschbar zu machen.
DESIGNETZ verknüpft Einzellösungen miteinander und das über Netzebenen und Regionen hinweg zu einem belastbaren Gesamtsystem. Photovoltaik, Windenergie, Kraft-Wärme-Kopplung, Speichertechnologien, steuerbare Energieverbraucher und vor allem die Verknüpfung durch intelligente Verteilnetze sind wichtige Elemente. Einspeisung und Verbrauch sollen durch Nutzung von Flexibilität optimiert werden. So soll das Energiesystem bei wachsender Einspeisung von grünem Strom stabil bleiben.
Die in diesem Schaufenster zusammengefassten Regionen befinden sich im Norden von Niedersachsen. Dort betrug bereits 2016 der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen 235 %. Es wird also weitaus mehr grüner Strom produziert, als vor Ort verbraucht. Vor allem Windkraftanlagen produzieren diesen Strom. In dem Projekt sollen Methoden entwickelt werden, um den Wandel des Energiesystems von einem statischen und zentralen zu einem dynamischen und dezentralen zu organisieren. Erprobt werden die durchgehende Digitalisierung und technische Flexibilisierung des Energiesystems vor Ort. So werden die Stromnetze intelligenter gemacht, indem viel mehr Daten über den aktuellen Status von Erzeugung und Verbrauch gesammelt werden als bisher. Dadurch wird es ermöglicht, unterschiedliche Strommengen aus regenerativer Erzeugung, aus anpassungsfähigen Lasten und aus Speichern zu erschließen, zu vernetzen und für die Teilnahme an einem regionalen Flexibilitäts-Markt zu ertüchtigen.
Konkret bedeutet das zum Beispiel den Einsatz von 200 intelligenten Trafostationen, die automatisch Schwankungen im Ortsnetz ausgleichen, welche häufig durch Solaranlagen entstehen. Außerdem werden Stromspeicher mit einer Gesamtkapazität von sieben Megawatt errichtet. Unternehmen werden in die Lage versetzt, ihre Produktionskapazitäten an der Menge des zur Verfügung stehenden Stroms auszurichten. Auch hier muss an vielen Stellschrauben gedreht werden, die alle digital zu vernetzen sind, um die möglichen Vorteile zu realisieren.
Informationen: https://projekt-enera.de
NEW 4.0 steht in diesem Fall für norddeutsche Energie-Wende und bezieht sich auf die Energieverhältnisse in Hamburg und Schleswig-Holstein. Die Hansestadt zeichnet sich durch eine starke Wirtschaftskraft in Handel, Gewerbe und Industrie aus und benötigt daher viel Energie. Das landwirtschaftlich geprägte Schleswig-Holstein ist eine der zentralen Regionen in Deutschland für die Stromerzeugung aus Windkraft. Wir haben es hier also mit einer großen Nachfrage und einem großen Angebot zu tun, die aber nicht so einfach zur Deckung gebracht werden können. Denn es gibt durchaus zeitliche Unterschiede, die technologisch ausgeglichen werden müssen.
Hier kommt NEW 4.0 ins Spiel. Dabei wird ein intelligentes Energienetz entwickelt und erprobt, das alle Akteure und Komponenten der Erzeugung, der Speicherung, des Transports und des Verbrauchs intelligent miteinander vernetzt. Mit dem Projekt soll ein neuer Ansatz erprobt werden: Der Verbrauch soll sich künftig dynamisch an das Stromangebot anpassen. Das bedeutet, vor allem zweierlei: Zum einen müssen die Möglichkeiten verbessert werden, den erzeugten Strom in andere Regionen zu exportieren, wo er verbraucht oder gespeichert werden kann. Zum anderen sollen in das Projekt integrierte Industrieunternehmen befähigt werden, ihre Produktion zu flexibilisieren, sodass sie diese an dem aktuellen Energieangebot ausrichten können. Außerdem wird in dem Projekt erprobt, wie man den Strom, der aufgrund von Netzengpässen nicht abtransportiert werden kann, sinnvoll speichert oder in andere Energieformen wie Wärme oder Wasserstoff umwandelt. Informationen: https://www.new4-0.de
An diesem Schaufenster sind die fünf ostdeutschen Bundesländer und Berlin beteiligt. Dort wird schon heute 50 % des Stroms durch erneuerbare Erzeugung gedeckt, hauptsächlich durch Windkraftwerke. Probleme stellen sich bei Windstille ein. Dann müssen konventionelle Kraftwerke in die Bresche springen. Oder das gegenteilige Szenario tritt ein: Der Wind bläst sehr kräftig und es fehlt die Infrastruktur, um den überschüssigen Strom dort einzusetzen, wo er gerade fehlt. In dem Projekt wird nun versucht, durch unterschiedliche Maßnahmen, Lösungen zu erproben, um das Stromnetz zu stabilisieren.
Zum einen werden die Leitungsnetze ausgebaut, um sich besser mit anderen Regionen zu verbinden – in beide Richtungen. Dann will man auch hier Erzeugung und Verbrauch verstärkt befähigen, sich an die aktuelle Energiesituation anzupassen. Zuletzt werden Speichertechnologien erprobt. Hier geht man auch ganz neue Wege im Großmaßstab. Zum Beispiel verbraucht die Nahrungsmittelindustrie (Brauereien, Molkereien, Fleischindustrie) viel Strom, um ihre Fertigung und die Produkte zu kühlen. Wenn sich nun viel Strom im Netz befindet, könnte dieser mithilfe der Vakuum-Flüssigeistechnologie zu speichern. Strom wird als Eis gespeichert, um bei knapper Erzeugung die normalen Kühlaggregate herunterfahren zu können. Informationen: https://www.windnode.de
Alle Schaufenster erproben Lösungen, um die Herausforderungen der Energiewende zu meistern. Schon jetzt ist absehbar, dass es die eine große technologische Lösung für diese Aufgabe nicht geben wird. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Aktivitäten. Um diese in einem einzigen System sinnvoll und effizient zu koordinieren und in ihren Leistungen und Bedürfnissen aufeinander abzustimmen, bedarf es digitaler Technologien. Ohne Digitalisierung des Energiemarktes ist die Aufgabe, vor der wir angesichts des Klimawandels stehen, nicht lösbar. Nur mit einer konsequenten Digitalisierung des Energienetzes und des Energiemarktes können Geschäftsmodelle etabliert werden, welche entsprechende Anreizsysteme für die Beteiligten und ihre Interessen schaffen. So können die Transformation und die Energiewende gelingen und jeder einzelne einen Mehrwert daraus ziehen – vor allem unsere Umwelt und die Generationen, die uns nachfolgen werden.